Neue Technologie trifft Seniorenpflegeheim
Während Apple-Jünger und -Freunde sehnsüchtig auf den Verkaufsstart des neuen iPad 3 warten, macht ein Seniorenwohnheim in Pankow schon jetzt eine erstaunliche, grundlegende Entdeckung: Menschen mit Demenz zeigen ein starkes Interesse und Freude an dem Tablet-Rechner, samt Touchscreen und Apps.
„In der ganzheitlichen Arbeit mit unseren Bewohnern, die von Demenz betroffen sind, setzen wir üblicherweise auf Vertrautes vergangener Tage, auf das Altbekannte“, schildert Ines Jesse, Leiterin des Domicil Seniorenpflegeheim Am Schloßpark. „Da wird zum Beispiel ‚Hoch auf dem gelben Wagen‘ angestimmt, die alte Singer-Nähmaschine zur Aktivierung genutzt oder mit dem schwarzen Wählscheiben-Telefon eine kleine Zeitreise unternommen.“ Umso überraschender seien daher die aktuellen Beobachtungen einer Mitarbeiterin, die ihr iPad eigentlich nur testweise zur Arbeit mitgebracht habe, so Ines Jesse.
Millionen-Erfolge
Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen kümmert sich Jacqueline Wienholtz um die Menschen im Wohnbereich 5 der Seniorenresidenz. Der sogenannte Beschützende Bereich gibt Menschen mit Alzheimer oder anderen dementiellen Erkrankungen sowie gerontopsychiatrischen Erscheinungsbildern ein Zuhause. „Seit einiger Zeit bringe ich mein iPad täglich mit zur Arbeit. Zuerst habe ich das nur als Versuch angesehen. Doch inzwischen ist es zum Ritual geworden, dass beispielsweise nach dem Frühstück in kleiner Runde auf dem iPad ‚Wer wird Millionär?‘ gespielt wird“, erklärt die Gerontoberaterin. „Dreimal haben die Bewohner des Bereiches bereits die Eine- Million-Euro-Frage geknackt. Und wir sprechen hier von Menschen mit Demenz!“ betont die engagierte Mitarbeiterin begeistert. „Wenn Günther Jauch das wüsste!“
Erfolge ohne Millionen
Ein anderes Beispiel: Frau H. (85) hat das erste Mal in ihrem Leben eine E-Mail über das iPad an ihren Sohn in Kanada geschickt: „Hallo, mir geht es gut. Eure Mutter.“ Ein Foto ist beigefügt. Hierauf sehen wir die Bewohnerin mit dem iPad, strahlend in die Kamera blickend. So hat sie wieder regelmäßig Kontakt zu ihrem weit entfernt wohnenden Kind. Doch es ist nicht nur das: Erfolgserlebnisse – auch ohne die Million –, Wertschätzung, das Gefühl, etwas geschafft zu haben („Das habe ICH eben gemacht!“), sind Aspekte in der Arbeit mit Dementen, die eine therapeutisch wirksame positive Verstärkung bringen.
Mit einer weiteren Bewohnerin ist Jacqueline Wienholtz auf Google Earth unterwegs. Aus der Vogelperspektive betrachten die beiden ein Grundstück mit Haus und Garten in Essen, eben jener Garten, wo Frau S. vor vielen Jahren einmal gewohnt hat. Wäsche hängt auf der Leine, man sieht es deutlich. „Das ist ja meine Wäsche, die da hängt, die könnte von mir sein“, kommentiert die Bewohnerin.
Ein anderer Bewohner, renommierter Architekt in Berlin, blickt via „Street View“ auf eines der früher von ihm entworfenen Gebäude. Er ist begeistert – und Stolz auf seine Arbeit, die er einst geleistet hat.
Man könnte diese Erlebnisse noch seitenweise fortführen. Durch die zahlreichen Funktionen beziehungsweise Applikationen (die sogenannten Apps), die Frau Wienholtz auf ihrem iPad installiert hat, lassen sich viele Interessen der Bewohner bedienen. Selbst bei schwerer Demenz ist das Gerät gut einsetzbar: Volkslieder werden abgespielt und mitgesungen, verloren geglaubte Küchenrezepte werden über das Internet gefunden, Vogelstimmen erklingen aus den Lautsprechern des Displays. Ein Kreuzworträtsel kann gelöst, Tiere können erkannt, Buchstaben geordnet werden. Oft sind es die eigentlich für Kinder konzipierten Spiele, die den Senioren am meisten Freude bereiten. „Toll!“ schwärmt Frau H., „das macht bestimmt auch Kindern viel Spaß.“
Praktisch ist: Das Gerät ist leicht und handlich wie ein dünnes Buch, man kann es bequem bei sich haben. So begegnet Jacqueline Wienholtz im Tagesraum einem Bewohner, der aktuell sehr unruhig ist, rastlos umherläuft und etwas sucht. Sie schaltet das iPad an und widmet ihm auf einem virtuellen Klavier das Stück „Für Elise“. Stille. Lauschen. Die sichtliche Entspannung des Muskeltonus zeigt: Hier wurde ein Faden wieder aufgenommen, der vor langer Zeit an einer bestimmten Stelle gerissen ist.
Vision und Wirklichkeit
Die Beobachtungen und Erfahrungen im DOMICIL in Pankow sind ein Anfang. „Wir sehen in der Arbeit mit dem iPad ein beachtliches Potential“, bestätigt Ines Jesse. „Mein Team hat recherchiert. Es ist ja durchaus bekannt, dass sich das iPad wegen der Nutzerfreundlichkeit auch für Senioren besonders gut eignet. – Neu scheinen unsere Beobachtungen in Bezug auf die Arbeit mit an Demenz erkrankten Bewohnern zu sein. Jedenfalls haben wir zu diesem Thema noch nicht viel im Internet finden können.“ Darum seien Pilot-Projekte in zwei Häusern vorgesehen, so die Einrichtungsleiterin. „Wir werden hierzu weitere Institutionen einbinden und denken zudem an eine Kooperation mit einer Universitätsklinik, um die Beobachtungen und Erkenntnisse auch der Wissenschaft zugänglich zu machen beziehungsweise auf wissenschaftliche Füße zu stellen.“ Einen Apple-Händler wolle man ebenfalls mit einbeziehen, so Jesse. „Nicht zuletzt ist sich das Domicil seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Daher wollen wir auch einen gemeinnützigen Träger an dem Projekt beteiligen.“
Sicherlich ersetzt das iPad nicht die herkömmlichen Beschäftigungsmaterialien, zumal das haptische Erleben bei diesem neuen Medium größtenteils auf der Strecke bleibt. Oft ist es handfester, wenn eine Puppe im Arm gehalten wird, oder eine Hand die Schulter berührt. Dennoch bietet das iPad, zumindest nach den bisherigen Erfahrungen im Domicil, eine umfassende Quelle an Möglichkeiten, Bewohner hier und jetzt, ohne großen Aufwand, einzeln oder in Gruppen zu aktivieren, aus der Traurigkeit, der Rastlosigkeit, dem Sich-nicht-Finden herauszuholen.